Das Gender Dilemma - Eine sprachwissenschaftliche Einordnung

Verfasst von Victoria Müller | 04.07.2021 | 17:15

Part I Einführung

Wenige Themen werden aktuell so leidenschaftlich diskutiert wie geschlechtergerechte Sprache. Wobei an der ein oder anderen Stelle eine leidenschaftliche Diskussion wünschenswert wäre, denn nicht selten treffen verhärtete Fronten aufeinander, wenn das Thema nicht schon in Gänze für populistische Thekenmonologe vereinnahmt wurde.

Argumente eben jener Stammtischgespräche, politische Debatten, Feuilleton Beiträge und sprachwissenschaftliche Analysen verfolge ich seit einigen Jahren gebannt, denn beim Thema geschlechtergerechte Sprache kommen zwei Gebiete zusammen, die mich fachlich und privat interessieren: Sprache und Gleichberechtigung.

Feministische Linguistik war Teil meines Germanistikstudiums und ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich damals (2009) auch etwas verdattert war, als wir über gegenderte Straßenschilder sprachen und diskutierten, welche Arten des Genderns es gibt. Warum mich das irritierte? Weil es ungewohnt ist. Ein normales menschliches Gefühl, denn wir sind Gewohnheitstiere. Und Sprachgewohnheiten sind eben auch Gewohnheiten. Deswegen ist die Ablehnung von neuen Dingen kein rein sprachwissenschaftliches, vielmehr ein soziologisches und psychologisches Phänomen, welches sich auch entsprechend einordnen lässt.

Ich möchte an dieser Stelle und mit dieser Reihe aber eine sprachliche Einordnung der geschlechtergerechten Sprache bieten. Die Argumente gegen eben jene basieren häufig auf Grundlage der Grammatik und Linguistik. Da das Thema größer ist als häufig abgebildet und ich eine verkürzte Darstellung vermeiden möchte, werde ich daraus eine Reihe machen. In jedem Teil widme ich mich einem Schwer- bzw. Kritikpunkt.

Beginnen werde ich mit einer kleinen Einführung, Begriffsdefinition und Skizzierung des Diskussionsgegenstands. 

Anschließend widme ich mich den Ursprüngen der Kritik, also wer sich auf professioneller Ebene gegen das Gendern ausspricht und wieso. Hier beziehe ich mich maßgeblich auf meinen eigenen Fachbereich und wage mich an eine Einordnung der Kritik.

Des Weiteren möchte ich die Anfänge des Genderns abbilden, denn auch wenn häufig anders dargestellt, ist die Umsetzung gendergerechter Sprache in vielen Bereichen schon lange etabliert. Außerdem werde ich Themen wie Arten der gendergerechten Sprache und Konsequenzen des Genderns anhand von empirischen Studien beleuchten. Gendersternchen oder Binnen-I werden m. M. n. zurecht kritisiert und meine Kritik möchte ich natürlich auch mit Argumenten und Fakten belegen.

Natürlich darf der Grammatikteil nicht fehlen. Eines der Totschlagargumente gegen das Gendern ist die falsche Grammatik. Nicht selten wird davon ausgegangen, dass unsere Grammatik ein starres, steriles und naturgegebenes System ist, das sich ähnlich wie das Periodensystem verhält und einzig „sprachinternen Regeln gehorcht“(1).

Kleiner Spoiler: Das ist falsch. 

Anhand von Beispielen möchte ich zeigen, wie sich Sprache verändert und nach welchen Regeln die deutsche Sprache funktioniert. Also wie unsere Sprache zum System wurde und wie das generische Maskulinum (also die Verwendung des grammatikalischen Männlichen als neutrale Form) sprachhistorisch einzuordnen ist.

Genuszuweisungen und wieso Genus (grammatikalisches Geschlecht) in einigen Fällen doch synonym zu Sexus (biologisches Geschlecht) verwendet werden kann, wird ebenso diskutiert wie die people = Male-Hypothese.

Ein häufiges Argument gegen geschlechtergerechte Sprache ist der Vergleich zu anderen Sprachen. Auch diesen Punkt werde ich mir genauer anschauen. Hier ebenfalls ein kleiner Spoiler: Der willkürliche Vergleich mit anderen Sprachen wie dem Türkischen (welches, wie das Ungarische keinen Genus kennt), ist nicht faktenbasiert oder relevant. Dennoch wird dieses Beispiel gerne als Beleg der Wirkungslosigkeit einer gendergerechten Sprache herangezogen. Diese These missachtet die soziale Wirklichkeit von Sprache und negiert bzw. ignoriert Untersuchungen zum male-as-norm-Prinzip (MAN-Prinzip).

Ich denke, es wird schnell deutlich, dass ich das Thema etwas eingehender betrachten möchte und muss. Die Ausführungen sollen einen Grundstock an Argumenten für eine Debatte am Kaffeetisch oder in den Kommentarspalten des World Wide Webs bieten und ggf. neue Impulse in der Betrachtungsweise liefern. Zudem möchte ich das Thema einmal wissenschaftlich aufarbeiten, denn leider sind viele Diskussionen unsachlich. Die Genderdebatte wird inzwischen häufig emotional geführt und diese kleine Reihe soll einer polemischen Herangehensweise gegenüberstehen.

Part I.2 Was ist Gendern?

Gendern ist ein Lehnwort und leitet sich aus dem englischen Substantiv gender (Geschlecht) ab. Gender ist nicht gleichgesetzt mit dem biologischen Geschlecht (sex), beschreibt also vielmehr das soziale Geschlecht. Dies umfasst „soziale Rollen und Eigenschaften, die einer Person stereotypisch als Mann oder als Frau zugeschrieben werden.“ (2)

„Die Unterscheidung sex und gender geht übrigens auf den Psychoanalytiker Robert Stoller zurück, der bei seinen Untersuchungen der Geschlechtsidentität von Menschen mit fehlenden oder inkongruenten sexuellen Merkmalen Ende der 1960er-Jahre feststellte, dass die körperlichen Merkmale nicht mit den psychischen übereinstimmen, man also ein biologisches und ein soziales/sozialisiertes Geschlecht unterscheiden müsse.“ (3) 

Gendern umfasst demnach mehr als nur geschlechtergerechte Sprache, ich werde diesen Begriff nachfolgend aber synonym mit gendergerechter Sprache verwenden, da dies in der Sprachwissenschaft Usus ist. 

Die Verwendung des Terminus Gendern für geschlechtergerechte Sprache ist relativ neu, die Thematik dahinter ist es nicht, auch wenn das gerne anders dargestellt wird. Die Kernposition ist das Prinzip „male as norm“ (kurz MAN), welches schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Sprachwissenschaftler Jan Niecisław Baudouin de Courtenay in seinem Werk „Einfluss der Sprache auf Weltanschauung und Stimmung“ kritisiert wurde. Die feministische Sprach- und Sprachgebrauchsanalyse entwickelte sich in den 1970er-Jahren und war eine Konsequenz der aufkommenden Forderung einer allgemeinen Geschlechtergleichheit. (4)

Gegenstand der Untersuchungen waren und sind „das Genussystem, die Personen- und Berufsbezeichnungen und Formen der pronominalen Referenz sowie die Struktur des Lexikons und Verfahren der Wortbildung im Deutschen“ (5). Maßgeblich steht die Asymmetrie der Personenrefernezen im Fokus, welche das Männliche als Norm klassifiziert. Diesen Punkt beleuchte ich noch genauer. Wer sich rudimentär mit der Thematik befasst, wird schnell merken, dass die Kritik am Gendern jenes ins Lächerliche ziehen möchte und häufig wenig faktenbasiert ist. An keiner Stelle wurde beispielsweise das Gendern von Objekten gefordert, obwohl das in populistischen Aussagen häufig unterstellt wird. Alternativ vermuten einige hinter allem die sog. Genderideologie und vergessen dabei selbst, wie die deutsche Sprache funktioniert.

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Der Berliner AfD-Politiker Gunnar Lindemann will “Genderwahnsinn” im Wort Fahrbahnende sehen.

Gendern soll der besseren Repräsentation des weiblichen Geschlechts in der Sprache dienen und das generische Maskulinum ablösen. Dafür gibt es diverse Lösungsansätze, die wir uns noch genauer anschauen werden. Das generische Maskulinum gilt in der Sprache als Norm und wird neben der maskulinen auch für die neutrale Form verwendet. Die Kategorie „Frau“ (sprachlich und gesellschaftlich) wird dieser untergeordnet, z. B. wird die maskuline Form bei Berufsbezeichnungen häufig durch den Suffix -in zur weiblichen Form. In der weiblichen Form steckt also oft die männliche, diesen Vorgang nennt man sprachwissenschaftlich „Movierung“. Ein Beispiel: der Lehrer (neutral/maskulin) -> +in = die Lehrerin (feminin)

In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass „Frauen in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Sichtbarkeit, in ihren Wirkungsmöglichkeiten und in ihrer persönlichen Lebensgestaltung eingeschränkt und benachteiligt“ werden. (6)

Außerdem gibt es empirische Untersuchungen dazu, dass generische maskuline Formen in psychologischen Tests nicht als generisch, „sondern geschlechtsspezifisch verstanden werden“. (7) Das bedeutet, dass die generisch maskuline Form nicht neutral gewertet wird und im Verständnis Frauen und Männer gleichsam einschließt, sondern als männlich verstanden wird. 

Und genau hier ist der Casus knacksus: Sprache ist kein isoliertes System, welches sich unabhängig von historischen Entwicklungen und Machtverhältnissen entwickelt, auch wenn dieses gerne behauptet wird. Sprache prägt die Wirklichkeit und umgedreht. Sprache darf nicht isoliert von der Systemseite betrachtet werden, die Verständnisseite ist genauso wichtig. 

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Verfasst von Victoria Müller

Ich habe Germanistik und Anglistik an der TU Darmstadt studiert und mache aktuell den Master in Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Berlin. Neben dem Studium arbeite ich als (Radio-)Moderatorin, schreibe aktuell mein zweites Buch und publiziere zu Themen, die mich bewegen.

 

Quellen:

(1) Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2020): Handbuch geschlechtergerechte Sprache. Duden. S.17

(2) Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2020): Handbuch geschlechtergerechte Sprache. Duden. S.8

(3) Klann-Delius, Gisela: Sprache und Geschlecht. J.B. Metzler. S. 8

(4) Klann-Delius, Gisela: Sprache und Geschlecht. J.B. Metzler. S. 6 ff

(5) Klann-Delius, Gisela: Sprache und Geschlecht. J.B. Metzler. S. 19

(6) Diewald, Gabriele / Steinhauer, Anja (2020): Handbuch geschlechtergerechte Sprache. Duden. S. 16

(7) Klann-Delius, Gisela: Sprache und Geschlecht. J.B. Metzler. S. 49


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